Statt ein „weißes Gewissen“ im globalen Norden zu finanzieren – arme Frauenkollektive im globalen Süden ermächtigen
KETAAKETI aus soziologischer Sicht
Wissenschaftliche Betrachtung
des KETAAKETI Modells von:
Dr. Jakob Fruchtmann,
Constructor University, Bremen (Dezember 2023)
Statt ein „weißes Gewissen“ im globalen Norden zu finanzieren – arme Frauenkollektive im globalen Süden ermächtigen
KETAAKETI aus
soziologischer Sicht
Wissenschaftliche Betrachtung des KETAAKETI Modells von:
Dr. Jakob Fruchtmann,
Constructor University, Bremen (Dezember 2023)
Statt ein „weißes Gewissen“ im globalen Norden zu finanzieren – arme Frauenkollektive im globalen Süden ermächtigen
KETAAKETI aus
soziologischer
Sicht
Wissenschaftliche Betrachtung des KETAAKETI Modells von:
Dr. Jakob Fruchtmann, Constructor University, Bremen (Dezember 2023)
KETAAKETI ist ein Ansatz, der aus soziologischer Sicht besonders interessant und wertvoll erscheint. Ich verfolge seit einigen Jahren mit großem Interesse diesen Ansatz und unterstütze ihn auch v.a. in der Zusammenarbeit über das Community Impact Project (CIP), das von Seiten meiner Universität Studierende dazu ermuntert, ihr bisher akademisch Gelerntes in praktischen Kooperationen mit und Hilfestellungen für regionalen Partnern anzuwenden. Unsere internationalen Studierenden nehmen Ketaaketi mit viel Enthusiasmus wahr. Was sie darin sehen und was sie auch dazu motiviert mit anzupacken, ist etwas, was auch mich immer wieder dazu motiviert hat, KETAAKETI zu unterstützen:
Es handelt sich um einen Ansatz, der den Ärmsten der Armen nicht aus einer bevormundenden, postkolonialen Perspektive gewissermaßen von oben herab „wohltätig“ unter die Arme greift, sondern um einen Ansatz, der die Kompetenzen und Potenziale der Betroffenen selber in den Vordergrund stellt und auf Augenhöhe mit ihnen kommuniziert, sie dazu ermutigt und ermächtigt, selbst Initiative zu ergreifen und auf eine würdige Weise die Projekte anzugehen, die sie selbst für prioritär erachten.
Die Erfolge, die KETAAKETI bislang hat vorweisen können, sind meines Erachtens äußerst beeindruckend und sprechen einerseits für sich. Andererseits handelt es sich aber auch um einen aus soziologischer Perspektive höchst interessanten und ausgesprochen innovativen Ansatz, der sowohl akademisch als auch politisch viel mehr Aufmerksamkeit verdient, als er bislang erhalten hat und der geeignet sein könnte, grundlegende positive Veränderungen in die Kommunikation zwischen globalem Norden und Süden einzubringen.
Allerdings müssen dazu die Vertreter des globalen Nordens, die helfen wollen, eine grundlegende Prämisse ihrer Interaktion kritisch reflektieren: Es sind nicht wirklich sie die Experten der Armut vor Ort – sie haben nur das Geld, das den anderen so dringend fehlt. Es sind aber nicht sie, die „besser wissen“, was den Betroffenen fehlt, es sind auch nicht sie, die definieren sollten, was deren Bedarfe sind, es sind also auch nicht sie, die vorgeben sollten, wie die Mittel verwendet werden – kurz, es sind nicht sie, die definieren, was „Hilfe“ ist. Auch, wenn sie es sind, die diese Hilfe bereitstellen: Macht dies sie zu Vormunden derer, die der Hilfe bedürfen?
Bei allem positiven Impetus derer, die helfen wollen, bleibt kritisch zu hinterfragen, wieviel von der unhinterfragten Selbstverständlichkeit, dass es stets die Helfer sind, die die Hilfe definieren schlicht aus der vorausgesetzten Ungleichheit der Verteilung der Ressourcen – und nicht aus den tatsächlichen Kompetenzen im Umgang mit der Armut abgeleitet wird. Wie sehr also die Entscheidungsmacht der Helfer bloß eine Reproduktion von ungleicher Verteilung von Ressourcen darstellt, also Machtverhältnisse abbildet und reproduziert. Ist diese Perspektive der „Hilfe“ eine wohlwollende, aber doch eine Reproduktion post-kolonialer Machtverhältnisse?
KETAAKETI interveniert hier und dreht die Perspektive um: Was können „wir“, die „Helfer“, tun, um die Betroffenen dazu zu ermächtigen, selber Wege zur bestmöglichen Verwendung der Mittel zu finden, die wir bereitstellen? Wie können wir zusammen mit den Ressourcen auch die Entscheidungskompetenz und Handlungsermächtigung transferieren, anstatt auf Menschen als bloßen Hilfeempfängern die Ohnmacht fehlender Handlungsautonomie zu projizieren?
Diese Umkehrung ist auch aus sozialpsychologischer Sicht ganz entscheidend, um Betroffene, die „hilflose“ und „wehrlose“ Empfänger und also auch passiv und initiativlos sind, dazu zu ermutigen und v.a. zu ermächtigen, zu aktiven Gestalter_Innen ihres sozioökonomischen Lebens zu werden. KETAAKETI ist in diesem Sinn eine anti-kolonialistische Initiative, die sich aktiv gegen die Entmündigung der Verarmten stellt und versucht, ihnen Mittel an die Hand zu geben, selbst Lösungswege für ihre Probleme suchen zu können. Dazu werden überkommene Formen der sogenannten Entwicklungshilfe, beziehungsweise der „Wohltätigkeit“, ersetzt durch neue Strukturen der beidseitigen Kommunikation, in die die Hilfeempfänger aktiv einbezogen sind als gleichberechtigte Entscheider über die Verwendung der Ressourcen und in der die horizontalen sozialen Strukturen vor Ort nicht mit (kostspieligen!) Parallelstrukturen versehen oder gar übergangen werden, sondern in den Prozess der Entscheidung und Verwendung der Mittel einbezogen werden.
Das Organisationsprinzip der Strukturen, die durch KETAAKETI aufgebaut und angeregt werden, ist zudem rekursiv und setzt sich auch vor Ort weiter fort, indem es aktivierend und ermächtigend nicht nur die Ressourcen, sondern auch Entscheidungen und Kompetenzen dorthin verlagert, wo die Betroffenen selbst agieren. Dabei entstehen mehrfach geschichtete, aber nicht-hierarchische, zum Teil überregionale und sogar transnationale Untergliederungen, in denen die klare Grenze zwischen Norden und Süden zu verschwimmen beginnt und horizontale Strukturen und Kooperationen der Betroffenen im globalen Süden gestärkt werden können.
Aus meiner Sicht ist dabei besonders interessant, wie KETAAKETI neue Formen von monetären Beziehungen entwickelt und fördert, die von typischen finanzkapitalistischen, hierarchischen Beziehungen frei ist und ohne die Zwischenkunft von Banken oder anderen machtvollen politischen und sozioökonomischen Institutionen stattfinden kann. In der Soziologie wird davon ausgegangen, dass Modernisierung meist mit Monetarisierungsprozessen einhergeht, in deren Zuge alle sozialen Beziehungen über Geld vermittelt, durch Geld kommuniziert bzw. auf Geld bezogen werden. Damit geht aber einher, dass vormoderne sozial-ökonomische Beziehungen und Formen der Interaktion, die beispielsweise auf Gabe und Gegengabe beruhen oder andere Beziehungen, die nicht direkt auf geld-bezogenem Austausch basieren in den Hintergrund gedrängt werden, während zunehmend und letztlich ausschließlich über Märkte vermittelt rational quantitativ berechnend und berechnet, Austausch über Preise die gesellschaftlichen Zusammenhänge zwischen den Akteuren formt. Andere, kooperative, nicht konkurrierende, gebrauchsbezogene oder auf wechselseitiger Hilfe beruhende Formen der Interaktion werden von dieser geldzentrierten Modernisierung verdrängt und als „nicht-rationales Entwicklungshindernis“ wie eine Irritation des wirklichen Fortschritts marginalisiert, an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Dies bedeutet aber auch, dass umgekehrt kulturell tradierte Formen der sozialen Interaktion, die nicht monetärer Natur sind, von einer Monetarisierung der Beziehungen zersetzt werden können. Derartige Widersprüche zwischen „vormoderner“ sozialer Kohärenz und Monetarisierung sind immer wieder in der Entwicklungssoziologie beobachtet worden und gehen dann oft mit Landflucht und urbanisierten Elendsformen einher.
Faszinierend am Ansatz KETAAKETI ist nun, dass er einen Weg aufzeigt, wie das zentrale Kommunikationsmedium des globalen Nordens – „Geld“ – tatsächlich auf eine viel produktivere Weise und eben ohne zersetzende Wirkungen auf soziale Organisationsformen vor Ort maximal nützlich gemacht werden kann, wie er sich organisch in die sozialen Beziehungen vor Ort einfügen kann. Wesentlich für den Ansatz ist, dass er weder die „Hilfeempfänger“ im Verhältnis zu einer mächtigen Finanzinstitution isoliert, deren Eigentumsrechte unbedingt zu berücksichtigen sind, noch sie zu einer gewinnorientierten Handlungsweise zwingt, indem es die Erwirtschaftung von Zinsen erforderlich macht. Selbst die Fristen der Rückzahlung der Mikrokredite sind nicht im Verhältnis zur Bank formal als Rechtsverhältnis fixiert, sondern Teil der Beziehungen der Akteure vor Ort, die eine ideale Verwendung der Geldmenge untereinander aushandeln. Das wichtigste Instrument von KETAAKETI sind von Haushalt zu Haushalt fortzirkulierende unverzinsliche Mikrokredite. Nachdem der erste Haushalt in einem Dorf erfolgreich die von KETAAKETI bereitgestellte Summe des Mikro-Kredits erwirtschaftet hat, wird die Geldmenge an den nächsten Haushalt weitergereicht, der dann seinerseits unter Einsatz der Summe diese Menge wiederum erwirtschaftet und wieder weiterreicht usw. Über Verteilung und Verwendung der Kredite wird im Dorf vor Ort kollektiv beraten und entschieden. Alle beteiligten Haushalte sind mithin daran interessiert, dass die Haushalte, die vor ihnen den Kredit verwenden, erfolgreich sind – was dazu führt, dass die Haushalte einander helfen, um sicherer und schneller ihrerseits an die Summe zu gelangen und so im Dorf horizontale Strukturen, mithin also die soziale Kohärenz gestärkt werden.
Auf diese Weise wird auch äußerst elegant ein „Problem“ gelöst, das den meisten an die monetäre Moderne gewohnten Menschen sofort bei der Vergabe von Geld einfällt – nämlich die Frage der Kontrolle. Es liegt nahe, misstrauisch auf ein Modell zu reagieren, bei dem die Verfügung über vergebene Mittel ganz den Empfängern überlassen wird. Ein Modell, das nicht nur davon ausgeht, sondern auch in seiner Effizienz davon abhängt, dass diese Mittel nicht nur erwirtschaftet, sondern auch zurück- beziehungsweise weitergegeben werden. „Wie soll das gehen?“ „Werden die Kreditempfänger nicht einfach die erhaltenen Mittel missbrauchen?“ Das wäre schließlich in unserer modernen monetären Logik geradezu zwingend zu erwarten. Doch tatsächlich, das beweist in beeindruckender Weise die jahrelange praktische Erfahrung von KETAAKETI, verhält es sich andersherum: Die Macht der kollektiven Kontrolle des Dorfes über die vergebenen Mittel ist eine viel bessere Absicherung einer verantwortungsvollen Bewirtschaftung des verliehenen Geldes als jede rechtlich abgesicherte Kreditvergabe einer Bank es je sein könnte. Hier ist im Falle von opportunistischem Verhalten (Trittbrettfahrer) mit negativen Sanktionen von Seiten der Dorfgemeinschaft zu rechnen. Vor allem aber kommt, wenn Schwierigkeiten bei der Wiedererwirtschaftung der Summe eintreten, die Dorfgemeinschaft zusammen, um zu helfen und so die Fortsetzung der Nutzung der Summe sicherzustellen. Die Dorfbewohner helfen aus dem besten Eigeninteresse einander gegenseitig, um sicherzustellen, dass das Geld bald zurückkehrt und in die Hände der nächsten Frau gewirtschaftet werden kann. Die dann ihrerseits so schnell und erfolgreich wie möglich handeln soll… Im Ergebnis wirkt das dörfliche Kollektiv besser als Garant einer effizienten Mittelnutzung als jede die Kreditnehmer vereinzelnde Absicherung der abstrakten Eigentumsrechte einer Bank. Und es tut dies bemerkenswerterweise nicht über Mechanismen der Konkurrenz, sondern durch eine Stärkung des gemeinschaftlichen Zusammenhaltes.
Schließlich möchte ich betonen, dass KETAAKETI einen innovativen Ansatz darstellt, der ausgleichend gegen Geschlechterungleichheiten wirkt und eine Ermächtigung speziell von Frauen und Frauenkollektiven bedingt. Ein weiteres Problem der monetarisierenden Entwicklung (und also auch der konventionellen monetären „Entwicklungshilfe“) besteht nämlich in der diesen Prozessen typischerweise innewohnenden Tendenz zur Zersetzung der Macht der Frauen in den dörflichen Gemeinschaften. Hier muss ich zur Erläuterung des Hintergrundes etwas ausholen: Die monetäre Modernisierung entwickelt eine Scheidung der privaten und öffentlichen Sphären, wobei die „relevanten“, gesellschaftlichen Prozesse der Produktion nun als geldbringende abgetrennt vom und außerhalb des privaten Haushalts stattfinden und die reproduktive Arbeit dagegen typischerweise in die Privatsphäre eingeschlossen wird. Vorherige gendergestützte Formen der Arbeitsteilung verteilen sich dann zunehmend so, dass Pflege- und reproduktive Arbeiten bei den Frauen verbleiben, aber nun „bloß noch“ privaten Charakter unter der Familienmacht der Männer haben, die nämlich „draußen“, „in der Gesellschaft“ das Geld für den Haushalt verdienen, von dem im Zuge der Modernisierung und Abnahme subsistenzwirtschaftlicher Reproduktion zunehmend alle Funktionen des Haushalts abhängig werden. Die typischerweise weibliche Reproduktions- und Pflegearbeit wird nun zur bloß dienenden Funktion degradiert, die funktional unter den gesellschaftlich bedingten und typischerweise zunächst männlich besetzten Geldverdienst subsumiert ist. Damit wird eine neue – modernisierte – Geschlechterhierarchie etabliert. Dies gilt auch und ganz besonders, wenn der tatsächliche „männliche“ Verdienst von Geld durch Arbeitslosigkeit bzw. allgemein mangelnde Perspektiven möglichen Gelderwerbs eingeschränkt ist.
KETAAKETI wirkt dieser Tendenz gleich in mehrfacher Hinsicht entgegen – obwohl selbstverständlich auch dieses Projekt mit dem Medium Geld fungiert. Die Verteilung aber und die Prozesse der Entscheidung über die Verwendung dieses Geldes, sowie die Wege der Verfügung über es liegen alle überwiegend in weiblicher Hand. Es sind in aller Regel die Frauen, die das Geld erhalten und damit wirtschaften, um die wichtigsten Notlagen der Haushalte zu beheben, ihre drängendsten Probleme zu adressieren und nachhaltige Wege einzuschlagen, die auch, nachdem das Geld ausgegeben ist, weiterhin dazu beitragen, die Armut der Familie zu erleichtern. Und es sind in aller Regel die Frauen der Haushalte, die sich versammeln, um kollektive Entscheidungen darüber zu treffen, wie mit dem Geld weiter verfahren werden soll.
Es sind eben nicht privat konkurrierende „moderne“ Geld-Subjekte, sondern Kollektive von Frauen, die gemeinsam Lösungswege entwickeln, um sich aus dem Elend fortzubewegen und dabei einander gegenseitig helfen, während die Männer sich oft darum bemühen müssen, in diesen Projekten eine konstruktive Rolle zu finden. Die Entscheidung hierüber obliegt jedoch in der Regel den Frauen. Insofern verdienen die Frauen sich – im geldwerten Wortsinn! – Macht und Respekt in der Dorfgemeinschaft. Es wird gleichermaßen die Macht der Banken in die Macht der Frauenkollektive verlagert – die viel besser zu entscheiden vermögen, wie das Geld verwendet werden sollte, um ihren Familien zu helfen.
KETAAKETI hat also nicht nur aus entwicklungssoziologischer Sicht einen Weg gefunden, Die sogenannte Entwicklungshilfe von postkolonialen Machtstrukturen freizumachen, es weist nicht nur aus ökonomischer Sicht einen überaus effizienten Weg auf, mit minimalen Mitteln maximale Erfolge zu erzielen und es ist auch nicht nur aus soziologischer Sicht eine Möglichkeit, mit Geld zu helfen und doch die Kohärenz in den dörflichen Gemeinschaften nicht zu schwächen, sondern sogar zu stärken. KETAAKETI zeigt über all dies hinaus auch aus feministischer Sicht neue Wege auf, wie der Respekt vor Frauen in den ärmsten der armen Gemeinschaften gesteigert, wie die Macht von Frauenkollektiven gestärkt, wie also zugleich mit der ökonomischen Hilfe auch ein Beitrag zu einer geschlechtergerechteren Entwicklung geleistet werden kann.
KETAAKETI stellt also einen soziologisch gesehen faszinierenden, innovativen Ansatz dar, wie Wege aus dem Postkolonialismus entwickelt werden können, die ökonomische Effizienz mit der Stärkung sozialer Kohärenz und einer größeren Geschlechtergerechtigkeit verbinden.
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